Heißgeliebte Bücher
Veröffentlicht: Donnerstag, 23. Februar 2017

Da liegt es in meiner Hand, mein erstes Kinderbuch. Ich sitze auf unserem Dachboden, wo ich eine Kinderbuchecke einrichte. Angeblich für meine Enkelkinder, an die allerdings noch in keinster Weise zu denken ist. Doch wenn ich ehrlich bin, mache ich die kleine Kinderbibliothek eher für mich selber, denn ich liebe Bücher, und vor allem Kinderbücher. Und die etwa 300 durch meine vier Kinder angesammelten Kinderbücher sind mir ein ganz wertvoller Schatz.
Da liegt es in meiner Hand, mein erstes Kinderbuch: abgegriffen, fleckig, mit Eselsohren, der orangefarbene Leinenrücken zerfleddert. Aber dafür, dass es fast 60 Jahre alt ist, mindestens tausendmal angeschaut und gelesen wurde, sieht es noch super aus. Überhaupt ein Wunder, dass es noch lebt.
Da liegt es in meiner Hand, mein erstes Buch: „D e r S t r u w w e l p e t e r“. Wer aus meiner Generation kennt es nicht, dieses „pädagogisch wertvolle“ Buch aus dem letzten Jahrhundert, von einem gewissen Dr. Heinrich Hoffmann.
Mein erstes Buch, wie habe ich es geliebt. Ich muss mich hinsetzen. Denn durch dieses alte, etwas muffelig riechende Buch durchströmt mich schlagartig der „Geruch“ meiner Kindheit. Da tauchen sie alle wieder auf: Der böse Friedrich, Paulinchen mit dem Feuerzeug, Der Zappelphilipp, der Suppenkaspar… All diese bunten Bilder, was fand ich die als Kind toll! Kannten wir ja noch keine Comics oder Zeichentrickfilme. Auch heute noch finde ich die Bilder wunderschön gemalt. Und wie ich da so sitze und mich über mein altes Buch freue, spüre ich auch ein gewisses Schaudern, spüre ich die Angst meiner Kindheit, die Angst, ja alles richtig zu machen. Ich fühle um mich die erhobenen Zeigefinger der Erwachsenen:
„Bass dou wohl liip!“
„Seff ja net fräsch!“
„Ähss pluhs dejn Tella ledisch!“
„Spiel ja net mat dem Feia!“
Ansonsten passieren dir so schlimme Sachen wie dem Paulinchen, das mit Haut und Haar verbrannt ist. Und dennoch, wie habe ich dieses Buch geliebt! Wie glücklich war ich, wenn mal jemand Zeit hatte, mir vorzulesen. Und das war in unserem Bauernbetrieb selten. Manchmal hatten wir Besuch von einer „Tante“ aus der Stadt, die sich Zeit für uns Kinder zum Vorlesen nahm, und manchmal konnte ich einen jungen Milchkontrolleur überreden, mir vorzulesen.
„D e r S t r u w w e l p e t e r“, das war mein erstes Buch, und mein Lieblingsbuch. Kein Wunder, es war auch mein einziges Buch, vielmehr unser einziges Buch, denn es gehörte uns vier Geschwistern zusammen.
Ich erinnere mich, wie ich zum ersten Mal mit meinem Vater auf dem Traktor nach Bitburg „Treber“ holen fahren durfte. Eine große Reise und ein großes Abenteuer. Mein Vater musste noch auf die Bank, und wir kamen an einem Schaufenster voller Bücher vorbei. Ich war vielleicht sechs, konnte noch nicht lesen, und es war für mich unvorstellbar, so viele Bücher zu sehen. Ich drückte meine kleine Nase sehnsuchtsvoll ans Schaufenster, und ängstlich und scheu fragte ich meinen Vater: „Kennen mia net e Boach fia mäisch käfen?“ „Dou hoss doch schunn änt!“, meinte mein Vater und zog mich weiter.
Als ich in die Schule kam, bekam ich mein erstes eigenes Buch, meine Lesefibel. Obwohl von meiner älteren Schwester geerbt, gehörte dieses jetzt mir ganz alleine. Da ich mit meinen Erinnerungen noch immer auf dem Dachboden sitze, suche ich meine alte Schulfibel, denn mit Sicherheit habe ich sie aufgehoben. Und tatsächlich, ich finde sie!
„F r o h e s L e s e n“ steht auf dem orangefarbenen abgewetzten Umschlag. Ich rieche den Geruch meiner alten Dorfschule. Ich erinnere mich an meinen ersten Schultag, voller Angst, aber auch voller freudiger Erwartung. Ach, was war ich begierig, das Geheimnis von Buchstaben, Wörtern, Sätzen, Büchern zu durchdringen! Ich sehe den riesigen Klassenraum mit dem riesigen Holzofen in der Mitte, acht riesigen Fenstern und zwei riesigen Tafeln. Ich sehe die uralten Schulbänke, ja es waren noch Bänke, denen man ansah, dass schon viele, viele Kinder sich in ihnen geplagt hatten. Ich rieche den Geruch von Holzfeuer, Leinöl und muffeligen Tafelschwämmchen. Ich höre noch genau das schleifende Geräusch von Kreide auf der Tafel, die laute, immer ernste, nie freundliche Stimme unseres alten Lehrers, das Knistern des Holzfeuers, ansonsten war Stille. Heute unvorstellbar, bei ca. 60 Kindern von der ersten bis zur achten Klasse in einem Raum! Ach, was waren wir so brav.
Meine Mutter hatte mir eingebleut :„An da Schull doarf ma nur schwäätzen, wemma gefrocht gett:“ Einmal hatte ich etwas nicht verstanden und fragte meine Freundin, die neben mir in der ersten Reihe saß. Schwupp, war der Lehrer, der sonst gar nicht gut hörte, neben mir, drehte mir das Ohrläppchen um und zog mich daran aus der Schulbank bis vorne vor die große Tafel. Dort musste ich den ganzen Vormittag auf dem Boden sitzen bleiben. O welche Schande! Und zu Hause gab es dann auch noch einen dicken Ärger. Dabei wollte ich doch so gerne lernen und eine brave, gute, fleißige Schülerin sein.
Beim Blättern in meiner alten Schulfibel spüre ich heute noch die große Angst, die ich vor diesem Lehrer hatte. Und mit dem Lesen und Schreiben lernen ging es dann doch nicht so schnell, wie ich es mir gewünscht hatte. Ich übte mich mit „Volksfreund“, „Paulinus“ „Bauernzeitung“ und Bibel. Das war die einzige Literatur, die es bei uns zu Hause gab.
Ach, da fällt mir ein, dass ich auf dem Dachboden in meinem Elternhaus ein ganz altes dickes Buch mit Heiligenlegenden fand, in dem ich heimlich las. Heimlich, weil Lesen „nichts Gescheites tun“ war, heimlich vielleicht auch deswegen, weil wir Kinder wohl die grausamen Abbildungen der Märtyrer nicht sehen sollten. Aber irgendwie übte dieses Buch eine große Faszination auf mich kleines ängstliches Kind aus. Vielleicht, weil diese Heiligen etwas Großartiges für die Menschheit getan haben. In mir erwachte eine große Sehnsucht, auch etwas Großartiges für die Welt zu tun, am liebsten eine „Heilige Elisabeth“ zu werden.
Als ich so etwa acht Jahre alt war, kam in meine entfernte Verwandtschaft eine Bibliothekarin. Bisher wusste ich gar nicht, dass es überhaupt so einen Beruf gibt. Musste das traumhaft sein, den ganzen Tag mit vielen Büchern umzugehen! Das wollte ich auch. Durch diese Frau bekamen wir nun zu Weihnachten von unserem Großvater jeder ein Kinderbuch. Bis dahin hatten wir 25 Enkelkinder immer zwei Leintücher bekommen, was von unserem Opa sicherlich gut gemeint, uns Kinder aber nicht gerade vom Hocker riss.
Nun bekam ich ein wundervolles Kinderbuch mit vielen toll gemalten Bildern: „D e r g l ü c k l i c h e L ö w e“. Auch dieses Buch finde ich noch in meiner Sammlung. Ich habe es so oft gelesen, dass ich es heute noch fast auswendig kann. Heute verstehe ich, warum ich dieses Buch so geliebt habe. Hier ging es um Glücklichsein, Freude, Freundschaft…, Begriffe, die in unserer kleinen, engen, dörflichen Bauernwelt keine große Rolle spielten und die in mir eine neue Sehnsucht aufkeimen liessen. „Bass dou glecklisch?“, das hatte mich noch nie jemand gefragt. Immer nur hieß es: “Bass de wohl brav!“, „Bass de wohl flejsisch!“…
Zu meiner ersten hl. Kommunion bekam ich neben Silberbesteck, Sammeltassen, Kerzenständern auch drei (!) Bücher geschenkt. Wer kennt sie nicht, die schönen kleinen kompakten Schneiderbücher mit buntem Einband aus dieser Zeit! Mein Lieblingsbuch war „S u s i u n d i h r S c h ü t z l i n g“, in dem es um Freundschaft, Abenteuer und „was Gutes tun“ geht. Ja, nach all dem sehnte ich mich auch.
Mit etwa 11 Jahren durfte ich in den Sommerferien zu Verwandten „in Ferien“. Die kleine Stadt Schleiden kam mir wie die große weite Welt vor. Am meisten aber beeindruckte mich, dass meine Verwandten das ganze Haus voller Bücher hatten. Meine gleichaltrige Kusine ging zum Gymnasium und hatte wundervolle Schulbücher. Was die alles lernte, was die alles konnte! Die Eltern waren in einem Bücherbund und hatten viele tolle Bildbände und Romane.
Ich begriff, dass man mit Büchern viel über Gott und die Welt, über andere Länder und Kulturen, über Pflanzen und Tiere erfahren konnte, und eine neue große Sehnsucht in mir entstand, die Sehnsucht nach Bildung, die Sehnsucht nach Wissen. Wie gerne wollte ich wie meine Kusine zum Gymnasium gehen und mich mit all den schönen Büchern befassen. Aber für meine Eltern kam das nicht in Frage. „Mia brouchen deisch doch hei zum Schaffen!“ Damit war das Thema für meine Eltern erledigt.
Bei meinen Verwandten durfte ich mir so viele Bücher ausleihen, wie ich wollte, die ich zu Hause versteckte und heimlich las. Heimlich deswegen, weil es sonst hieß:“ Hoss dou soss neist ze doan?“ Und vielleicht aus deswegen, weil man in Büchern Dinge erfahren konnte, über die sonst nicht gesprochen wurde. Und so las ich alles, was ich kriegen konnte, von Karl May bis zu all den Großen der Weltliteratur, von Dostojewski bis Thomas Mann.
Als ich nach 9 Jahren aus meiner einklassigen Dorfschule entlassen wurde, hatte ich zwar gelernt, brav und rücksichtsvoll zu sein, aber an Bildungsgrundlagen fehlte mir ganz viel. Mein Lehrer versuchte meine Eltern davon zu überzeugen, dass ich doch unbedingt zum Aufbaugymnasium gehen müsste. „Wat brouch e Mädschen op de Schull, de hejroten doch suwiesu!“, war nicht nur die Meinung meiner Eltern, sondern auch immer noch die allgemeine Ansicht in unserer dörflichen Welt. Nein, das war nicht im vorletzten Jahrhundert, auch nicht vor dem Zweiten Weltkrieg, das war in den 60er Jahren in der Eifel! Und ich, mit meiner großen Sehnsucht nach Bildung, ich wurde nicht gefragt. „Ma frocht Kanner net so viel.“ Nun gut, so war die Zeit eben, und meine Eltern haben es ja auch immer gut gemeint. „Awer good gemennt as net emma good.“
Doch letztendlich gaben mir meine große Sehnsucht nach Büchern, Wissen, Verstehen… doch die Energie und die Kraft, gegen den Willen meiner Eltern das Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg zu machen. Als ich dann mit 19 aus meinem kleinen Dorf zum Studieren nach Koblenz in ein möbliertes Zimmer zog, war mein erstes eigenes gekauftes Möbelstück ein Bücherregal. Ich sehe es noch vor mir: ein Metallgestell mit drei Brettern zum an die Wand hängen. Mit meinem ersten selbst verdienten Geld, denn ich arbeitete immer in den Semesterferien und wollte beweisen, dass ich es alleine schaffe. Bei Studienbeginn hatte ich in meinem Regal einen halben Meter eigene Bücher, alle achtsam behandelt und liebevoll mit Klarsichtfolie eingebunden. Als ich nach vier Jahren auszog, besaß ich vier Meter eigene Bücher! Neben den Fachbüchern viele, viele Romane. Ich kaufte mir lieber Bücher als Schokolade oder Klamotten, viele in der Bahnhofsbuchhandlung, wenn ich am Wochenende mit dem Zug nach Hause fuhr. Denn selbstverständlich war ich jedes Wochenende zum Helfen in mein Dorf gefahren. Unzählige Romane, jetzt in erster Linie zeitgenössische, habe ich auf den Zugfahrten verschlungen, und das völlige Eintauchen in ein spannendes, ergreifendes, mich berührendes Buch hat mich über so manche schwere Zeiten von Depressionen, Krankheiten und schlaflosen Nächten hindurch gerettet. Immer ein Buch in der Tasche, konnte ich jederzeit in andere Welten tauchen.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass ich ausgerechnet einen Germanisten geheiratet habe. Mein Mann und ich lieben beide Bücher, beide wollen wir auch immer die Bücher, die wir lesen, besitzen, und so leben wir in einem Haus, das von unten bis oben mit Büchern voll gestopft ist. Ich bin stolz auf unsere 60 Meter Bücher, ich schätze, es sind etwa zweieinhalb Tausend Stück. „Hoss dou die ouch all gelest?“, fragt meine Mutter, die in ihrem Leben so gut wie kein Buch gelesen hat, denn als sie jung war, war nie Zeit, und im Alter fehlte dann das Interesse. Mit meinem heutigen Verständnis, dass Bildung nicht alles ist, sage ich ihr liebevoll: “Herzensbildung ist das Allerwichtigste!“
Nein, ich habe unsere Bücher nicht alle gelesen, noch nicht vielleicht. Aber sie tun mir gut. Manchmal nehme ich eins von den wunderbaren alten Büchern, die wir von meinem Schwiegervater geerbt haben, Goethe, Rückert, Lessing, Kleist…, voller Ehrfurcht in die Hand. Vielleicht werde ich sie noch mal lesen, und vielleicht überträgt sich auch durch ihre bloße Anwesenheit etwas von dem Wissensschatz meines Schwiegervaters und seinen Büchern auf mich.
Ich sitze immer noch auf dem Dachboden in der Kinderbuchecke und philosophiere über mein Leben ohne und mit Büchern, wie Bücher mich geleitet und getröstet haben. Liebevoll und glücklich betrachte ich die vielen Kinderbücher. Unsere vier Kinder bekamen nicht alles und nicht jedes Spielzeug, wir wollten sie bewusst bescheiden erziehen. Aber Bücher gab es immer ganz viele. All die wunderbare Kinderbuchliteratur, von Astrid Lindgren bis zu Michael Ende, habe ich mit großer Begeisterung meinen Kindern vorgelesen und damit ein Stück meines Kindheitsmangels nachgeholt. Hierbei habe ich intensiv erfahren, welche wunderbare Form der Zuwendung das Vorlesen ist, denn beim Vorlesen kann man nichts anderes tun als sich auf das Lesen und die Zuhörer zu konzentrieren. Man kann nicht noch schnell mit einer Hand was anderes machen oder mit einem Auge woanders hin schauen, man kann höchstens den Zuhörer im Arm halten. So lasse ich mir auch heute noch unheimlich gerne von meinem Mann vorlesen, für mich eine wunderbare Form von liebevollem Zusammensein.
In einem kleinen Büchlein von Astrid Lindgren, dieser großartigen weisen Kinderbuchautorin – ich glaube, es ist das einzige, was sie für Erwachsene geschrieben hat – sagt diese sinngemäß: „Das Beste, was man für eine gute Zukunft der Welt tun kann, ist, seinen Kindern vorzulesen und in ihnen die Liebe zu Büchern zu fördern.“
Bei mir ist diese Liebe durch den Mangel entstanden. Doch heute fühle ich nach diesem Rückblick auf mein Leben inmitten all meiner Kinderbücher eine große Dankbarkeit und Versöhnung. Liebevoll betrachte ich meinen alten „S t r u w w e l p e t e r“ und stelle ihn in das Regal zurück – „für meine Enkelkinder“.
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„Heißgeliebte Bücher“ von Elisabeth Dichter-Hallwachs ist zuerst erschienen im Heimatkalender des Eifelkreises Bitburg-Prüm Nr. 63/2014
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